Seit dem 1.1.2021 ist Großbritannien nicht länger Teil des großartigen europäischen Projektes namens EU. Über 60 Millionen Menschen mit ganz besonderen Eigenschaften und Eigenarten haben sich nun wieder in einer Art Splendid Isolation auf ihre Insel zurückgezogen. Und ich bedauere es ganz besonders. Denn diese Menschen haben mit der Homecomputer-Revolution in den 80er-Jahren mein Leben so sehr inspiriert und bereichert. Die britische Computer- und Software-Industrie hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Dieser Beitrag soll die großartigen Leistungen spezieller britischer Computer-Pioniere hervorheben und ehren.

Britische Computer- und Software-Pioniere
Geschichte der britischen Computerindustrie
Zuerst mal eine Übersicht britischer Computer und eine Zeitleiste zur Computergeschichte. Sie zeigen deutlich auf, daß durch viel Kreativität und durch die Not des zweiten Weltkriegs die ersten Computer gebaut wurden. Damit hat man den Angriff von Nazi-Deutschland auf die Zivilisation bekämpft. Zum Beispiel wurden auf diese Weise in Bletchley Park die Colossus-Computer gebaut. Diese Computer halfen die Verschlüsselungen der deutschen Enigma-Maschinen zu brechen.
Ich selbst war einmal in Bletchley Park als wir einen Freund in Milton Keynes besuchten. Leider haben wir nicht die Führung in das Museum gemacht, da wir an diesem Tag noch Oxford besuchen wollten.

Frauen in der britischen Computerindustrie
Nach dem zweiten Weltkrieg wurden in Großbritannien diese Computer weiterhin geheim gehalten. Zur Bedienung wurden vor allem Frauen eingesetzt. Sie programmierten und bedienten die Computer. Diese Frauen wurden auch als Computer bezeichnet. Bis in die Mitte der 60er-Jahre galten diese Jobs für Männer als uninteressant, da sie vor allem von Frauen besetzt wurden. Dieser Artikel über die wechselnde Rolle der Frauen in der britischen Computerindustrie zeigt dies deutlich auf. Aber ab Mitte der 60er-Jahre wurde die Rolle des Computers immer wichtiger. Höher integrierte Computer übernahmen immer mehr gesellschaftlichen Aufgaben. Jobs in der Computerindustrie bekamen dadurch eine höhere Bedeutung. Obwohl britische Frauen das dafür notwendige Wissen und die Erfahrung gesammelt hatten, wurden sie immer mehr ausgegrenzt. Die Männer übernahmen diese Jobs. Auch gehaltstechnisch wurden diese Jobs aufgewertet.
In dieser Zeit verlor aber auch die britische Computerindustrie ihre Größe und Bedeutung. Damals beschloss die Regierung mehrere Computerfirmen in einer großen Firma namens ICL zu integrieren. ICL sollte große Mainframes bauen, die von weniger Personal betrieben werden konnten. Diesmal von Männern anstelle von Frauen. Unglücklicherweise fiel diese Entscheidung in eine Phase, in der kleinere Mainframes am Markt erfolgreicher wurden. Stattdessen dominierten US-amerikanische Firmen wie IBM and the BUNCH (Burroughs, UNIVAC, NCR, Control Data Corporation (CDC) und Honeywell) den Markt der Mainframes auch in Großbritannien.
Die Home Computer Revolution Made in UK
Erst Ende der 70er-Jahre entstand wieder eine britische Computerindustrie. Und auch ein neuer Typ von Computer: der Home Computer. Er war ein reines Consumer-Produkt, im Gegensatz zu allen Computern davor. Und er konnte nur in Großbritannien entstehen.
ACT Apricot Portable Acorn BBC Micro B und Electron Oric 1 Oric Atmos ZX Spectrum ZX Spectrum+
Was der Altair für die amerikanischen Geeks war, wurde der Nascom für die britischen “Hobbyists”. Die drei ersten amerikanischen “Home Computer” Apple II, Radio Shack TRS 80 und Commodore PET waren so teuer, daß sich nur wenige Menschen in Europa diese Computer leisten konnten. Deshalb entwickelten britische Computer-Pioniere bezahlbare Micro-Computer, die ab den frühen 80er-Jahren in Millionen europäischen Haushalten standen.
In Europa war die Trennung zwischen Hobby-Computern, die wenige Hundert Pfund kosteten und Personal Computern mit teuren Diskettenlaufwerken, die über 1000 Pfund kosteten, viel deutlicher als auf dem amerikanischen Markt. Personal Computer wurden in Büros, Bildungseinrichtungen und Forschungsinstituten eingesetzt. Selten nutzte man PCs in privaten europäischen Haushalten.
Billige Computer made in UK
Um also Privathaushalte zu erreichen, mußte man günstige Computer anbieten. Idealerweise wurden Fernseher für die Bildausgabe und Cassettenrecorder für die Speicherung von Daten wiederverwendet. Diese günstigen Computer wurden von jungen Startups rund um die Universitätsstadt Cambridge erdacht und auf den Markt gebracht.
Eine wichtige Rolle spielte dabei das National Enterprise Board (NEB). Das NEB rettete gescheiterte englische Firmen mit Investments und übernahm die Steuerung dieser Firmen. Eine bekannte Firma, die von dieser Behandlung profitierte war Ferranti. Eine andere war Sinclair Radionics, die 1978 am Newbrain-Computerkonzept arbeiteten. Das NEB entschied dann aber, daß dieses Projekt von den Newbury Laboratories weitergeführt werden sollte. In der Folge bezahlten sie Clive Sinclair aus und schlossen Sinclair Radionics.
Sinclair selbst gründete dann Sinclair Research Ltd. In einem meiner Beiträge würdige ich Sir Clive und seine ersten Computer ZX80 und ZX81. Es war seine besondere Leistung, bezahlbare Home Computer für die Massen der sogenannten britischen “Hobbyists” hergestellt zu haben. In Großbritannien war die Anzahl dieser Gruppe von Computerbegeisterten größer als in jedem anderen Land auf dieser Welt.
Eine weitere Firma, diesmal aus den USA, machte gute Geschäfte auf dem europäischen Markt mit günstigen Computern. Es war Commodore mit dem VIC20. In Deutschland wurde dieser Computer VC20 oder Volkscomputer genannt.
Cambridge, die Keimzelle der britischen Homecomputer
Aber wieder zurück zu Cambridge und seinen kreativen Köpfen. Deren Geschichte wird in einem Arstechnica-Artikel über Acorn-Computer und die ARM Revolution schön beschrieben. Acorn wurde gegründet von dem ehemaligen Sinclair-Mitarbeiter Chris Curry und dem Österreicher Hermann Hauser. Sie bedienten sich aus dem großen Pool an gut ausgebildeten Ingenieuren der Universitätsstadt. Diese studierten teilweise noch in Cambridge, als sie für Acorn angeworben wurden. Besonders zu nennen sind hierbei Sophie Mary Wilson (früher Roger Wilson) und Steve Furber. Auch Acorn baute erst günstige Microcomputer wie das System 1 für 80 Pfund. Als Antwort auf den Sinclair ZX80 brachte Acorn den Atom auf den Markt.
Zur selben Zeit brachten BBC und staatliche britische Stellen eine interessante Entwicklung ins Rollen. Dadurch katapultierten sie die britische Computerindustrie in ungeahnte Höhen.
The Computer Literacy Project der BBC
Die BBC erarbeitet Konzepte, um die wirtschaftlichen Ziele der Thatcher-Regierung zu unterstützen. Dazu gehörte die Ausbildung der Bevölkerung in neue zukunftsweisende Inhalte. Der Abbau von Industrie-Arbeitsplätzen erforderte die Schaffung neuer Arten von Arbeitsplätzen, die eher in die Richtung Knowledge-Worker gingen. Dafür aber mussten Schulungsinhalte für die Programmierung von Computern in die Breite gebracht werden.
Der BBC traute man den Aufbau eines Schulungsprogramms zu, was über Fernseher ausgestrahlt wurde. Unterstützen sollte dabei ein speziell für diese Fernsehsendungen konzipierter Computer. Bauen sollten diese Computer englische Firmen, die vom NEB unterstützt und gefördert wurden. Dieses Programm wurde The Computer Literacy Project genannt und kann in den Mediatheken der BBC auch heute noch aufgerufen werden.
Der passende Computer zum Bildungsprogramm
Die BBC gab die Spezifikation des geplanten BBC Computers an diverse englische Computerhersteller weiter. Dabei unter anderen Acorn Computers, Sinclair Research, Newbury Laboratories, Tangerine Computer Systems und Dragon Data. Die Spezifikationen waren so herausfordernd, daß am Ende nur Acorn übrigblieb, die einen funktionierenden Prototypen zeigen konnten. Tatsächlich waren die Spezifikationen des Acorn Proton, der die Grundlage des erfolgreichen BBC Computer darstellte sogar weitreichender. Acorn war eine beeindruckende Firma mit ganz besonderen Ingenieuren und Managern.
Der BBC Micro und das dazugehörige Fernsehprogramm „The Computer Programme TV series“ hatten einen massiven Einfluss auf die britische Gesellschaft. Hunderttausende BBC Micros standen in den Schulen und wurden zum Lernen benutzt. Aber im privaten Umfeld setzten sich dann die günstigen Computer von
- Sinclair: ZX81, ZX Spectrum, ZX Spectrum+, ZX Spectrum 128k und QL
- Amstrad: CPC464, CPC664 und CPC6128
- Tangerine: Oric 1 und Oric Atmos
- Dragon: Dragon 32 und Dragon 64
durch. Aber auch Acorn schob dann noch den Electron nach, der allerdings sehr spät kam.
Auswirkungen auf Europa
All dies führte zu einem riesigen Markt nicht nur auf der Insel, sondern auch in ganz Europa.
- Sinclair ging eine Partnerschaft mit Timex ein, nachdem der Eintritt in den amerikanischen Markt eher zäh losging. Ein Grund war, daß das britische Mailorder-System in den Vereinigten Staaten nicht so angewendet werden konnte wie in Großbritannien.
- Timex Portugal produzierte auch Kopien und Weiterentwicklungen von ZX81 und ZX Spectrum für den europäischen Markt.
- vielleicht über diese portugiesische Partnerschaft tauchten dann auch in Brasilien Kopien der Sinclair-Computer von Microdigital auf.
- in Spanien ging Sinclair eine Partnerschaft mit Investronica ein, die den Sinclair ZX Spectrum 128 in einer spanischen Version auf den Markt brachten. Dieser Computer wurde ein halbes Jahr später auf dem britischen Markt verkauft, da erst die Bestände vom Spectrum+ verkauft werden sollten.
- Oric und Amstrad waren sehr erfolgreich in Frankreich.
- Commodore beherrschte den deutschen Markt.
- Amstrad ging Kooperationen z.B. mit Schneider ein und expandierte damit auch auf den europäischen Markt.
- Amstrad war ein Späteinsteiger in den Markt, der Sinclair’s Produktkatalog und Namen im Jahr 1986 übernahm und die Spectrum-Reihe in anderer Form neu auflegte.
Kurze Erfolgsphase
Die Homecomputer-Szene in Großbritannien und Europa hatte ein paar kurze erfolgreiche Jahre. Eine Vielzahl an Anbietern buhlte darum mit ihren Modellen in die Kinderzimmer und Wohnzimmer zu kommen. Der ZX Spectrum und später der Commodore 64 waren die absoluten Megaseller in Großbritannien. Dahinter lagen dann BBC Micro B, Dragon 32, Oric 1 und auch immer noch der ZX81.
Zusammenbruch der 8-Bit Homecomputer
Zwischen 1984 bis 1986 brach der 8-Bit Homecomputermarkt in Europa langsam zusammen. Viele der britischen Firmen konnten nicht mehr so viele Computer absetzen und erholten sich nicht mehr. Die einzigen beiden Firmen, die sich noch halten konnten waren Acorn und Amstrad. Acorn wurde von Olivetti übernommen und Amstrad konnte sich über günstige Massenprodukte wie z.B. PCs am Markt behaupten. Weitere britische PC-Pioniere wie Apricot mit seinem Apricot Portable und dem Apricot Xi waren zwar innovativ, hatten aber keinen dauerhaften Erfolg.
Acorn arbeitete zu diesem Zeitpunkt schon an der nächsten Revolution. Der ARM (Acorn RISC Machine) Prozessor sollte die Welt erobern. Zuerst wurde dieser Prozessor in der Archimedes-Reihe eingesetzt und bis Ende der 90er-Jahre weiterentwickelt. Aber der erste Erfolg wegen seiner Energie-Effizienz kam erst durch seinen Einsatz in Apples Newton PDA.
Die britische Software-Industrie
Durch die BBC TV-Serie „The Computer Programme“ wurden tatsächlich viele hauptsächlich junge männliche Briten zu Programmierern. Superstars wie die Oliver-Zwillinge Philip und Andrew, oder Matthew Smith definierten komplett neue Karriere-Wege und so entstand mit den günstigen Homecomputern eine Vielzahl an Software-Firmen und Publishern. Viele davon sind schon vergessen, aber einige gibt es auch heute noch.
Britische Software-Firmen waren unter anderem Arctic Computing, DK’Tronics, Bug-Byte, Firebird Software, Imagine, Quicksilver, Psion, Alternative Software, Ultimate: Play The Game, Atarisoft (UK), Domark, Ocean Software, U.S. Gold, Elite Systems, Gremlin Graphics, Mastertronic, Electric Dreams, Software Projects, Codemasters und Silverbird. Angeblich soll es alleine 12000 Software-Titel für den ZX Spectrum geben
Über zwei der ganz Großen der damaligen Softwareszene, Ocean and Imagine Software, gibt es eine BBC-Sendung, die viel vom Gefühl der damaligen Zeit aufzeigt. Eine weitere Story über die Entwicklung der britischen Software-Industrie läßt die Programmierer aus dieser Zeit zu Wort kommen. In deren Programmen und Spielen spiegelt sich sehr oft der spezielle britische Humor wieder.
Britische Computer-Magazine und Software-Listings
Was war es für eine Freude, englische Computer-Magazine wie Your Computer oder Sinclair User damals zu lesen. Mein erster Kontakt mit englischen Magazinen, englischer Werbung und Mail-Order. Man konnte solche Magazine nur in gut sortierten Kiosken wie am Bahnhof oder Flughafen bekommen. Aber dann eröffnete sich für einen Sinclair Computeruser wie mich eine großartige Welt, die ich nicht in Deutschland vorfand. Listings mit grossartigen Spielen für den Sinclair ZX81 konnte man abtippen und austesten. Ich habe damals Stunden verbracht, das Marketing für die vielen Software-Titel für den ZX-Spectrum und andere damals in Großbritannien populäre Computer zu bewundern.

Nach dem Niedergang der 8-Bit Homecomputer stiegen viele dieser Programierer, Softwarefirmen und Publisher auf die neuen 16-Bit Computer Atari ST und Amiga um. Auch der PC und ganz besonders Spielkonsolen zogen weitere britische Coder an. Neue Firmen wie Bullfrog, Sensible Software und Psygnosis entstanden. Viele die mit den Home Computern der 80er Jahre gross geworden sind, sind heute in verantwortlichen Stellen in der Computer Games Industrie tätig.
Aber Ende des Jahrtausends waren die meisten britischen Software-Companies entweder verschwunden oder in internationalen Firmen aufgegangen. Softwareentwicklung benötigte spätestens da große Teams und große finanzielle Investments.
Und heute?
Das von Sophie Wilson erdachte ARM Prozessordesign ist heute in allen mobilen Computerplattformen enthalten. Mit dem Apple M1-Prozessor kommt diese Architektur nun auch auf die leistungsfähigen Computer und lässt Intel und AMD alt aussehen.

Der Raspberry Pi ist auch ein britisches Brain Child und hat weltweit begeisterte Anwender und Anwendungen gefunden.
Zwei Beispiele dafür, dass Großbritannien großartige Menschen und Produkte hervorbringen kann. Leider aber nicht mehr als Mitglied der Europäischen Union.
Sehr schade.
Eine große Freude und spannende Lektüre, eine Chance mal wieder in die Computer Entwicklung der 80er einzusteigen. Unglaublich was für tolle Dinge auf der Insel entwickelt wurden. Von so vielen großartigen Menschen, die sich aber immer wieder selber ein Bein gestellt haben. Der neueste Brexit Streich wird uns zeigen in welche Katastrophe die Insel demnächst schliddern wird. Schön zu sehen dass die Helden der Vergangenheit nicht Vergessenheit geraten sind. Sir Steve Sinclair. Allein der Name hat schon Klasse. In diesem Sinne weiter so. Das Leseabo bereitet große Freude. 👍